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Der größte Hebel, um Bürokratie abzubauen, liegt in der Digitalisierung
AWV-Interview mit Prof. Dr. Sabine Kuhlmann, stellvertretende Vorsitzende des Nationalen Normenkontrollrats (NKR)
Prof. Dr. Sabine Kuhlmann ist zugleich die stellvertretende Vorsitzende des Nationalen Normenkontrollrats (NKR) und Lehrstuhlinhaberin an zwei verwaltungswissenschaftlichen Fakultäten. Wir haben sie gefragt, warum Digitaltauglichkeitsprüfungen im Rahmen neuer Gesetzesvorhaben so wichtig sind und wie Deutschland die digitale Transformation auch im gefühlten „Dauerkrisenmodus“ bewältigen kann. Weitere Themen im Interview waren Künstliche Intelligenz sowie die Frage, ob Unternehmen im Rahmen der Verwaltungsdigitalisierung ausreichend berücksichtigt werden.
Frau Prof. Dr. Kuhlmann, Sie sind Verwaltungswissenschaftlerin an der Universität Potsdam, seit 2011 beim Nationalen Normenkontrollrat (NKR) engagiert und seit fast sieben Jahren nun stellvertretende Vorsitzende des NKR. Was verbindet Ihre beiden Positionen als Wissenschaftlerin und als Ratgeberin für die Bundesregierung, und was unterscheidet sie?
Die Verbindung liegt sicher vor allem im Thema begründet, also darin, dass die Fragen einer modernen und gut funktionierenden Verwaltung, die Prozesse von Rechtsetzung und Gesetzesvollzug, aber auch wichtige Transformationsfragen wie Digitalisierung, Krisenresilienz, Bürokratieabbau und anderes mehr, Kernthemen sowohl in der Verwaltungswissenschaft als auch in der Politikberatung sind. Ich kann die Erkenntnisse, die wir aus wissenschaftlicher Forschung gewinnen, direkt in die Beratungstätigkeit einbringen und so zu einer engeren Verknüpfung von Wissenschaft und Entscheidungspraxis beitragen, was mir immer ein besonders Anliegen ist, da ich die Praxisbezüge von Forschung wichtig finde. Umgekehrt kann ich aber auch Einsichten und Erkenntnisse, die sich aus der Beratungstätigkeit ergeben, in neue Forschungsinitiativen und in meine universitäre Lehre einfließen lassen, was vor allem von den Studierenden sehr wertgeschätzt wird.
Es ist diese Art von Grenzgängertum (boundary spanning), die ich als sehr bereichernd empfinde. Es gibt natürlich auch wichtige Unterschiede zwischen der Wissenschaftssphäre und der Politikberatung, die man immer wieder bewusst reflektieren muss, um nicht in Rollenkonflikte zu geraten.
Das betrifft zum einen die Notwendigkeit, in der wissenschaftlichen Forschung möglichst wertneutral und „objektiv“ zu bleiben, was auch Erkenntnisse einschließen kann, die politisch nicht so populär oder gerade nicht so willkommen sind. Die Forschung muss sich kritisch mit gesellschaftlichen Entwicklungen auseinandersetzen und darf sich nicht von vorab festgelegten normativen Ansichten oder Wünschen leiten lassen, auch wenn wir natürlich den Entscheidungsträgern anhand von Forschungsergebnissen oftmals Empfehlungen und Handlungsoptionen mit auf den Weg geben. Aber da sind wir dann schon wieder Politikberater und nicht mehr Forscher im engeren Sinne. Eine gewisse Ferne und Distanz zum Politikbetrieb sind also erforderlich, damit Wissenschaft nicht mit Aktionismus verwechselt wird.
In der Politikberatung dagegen ist man sehr viel näher am Entscheidungsprozess, muss bestimmte normative Setzungen berücksichtigen, und man agiert insgesamt „politischer“ und antizipiert bestimmte politische Präferenzmuster, Debatten oder Machbarkeitsüberlegungen. Man wirkt auch darauf hin, dass die eigenen Empfehlungen möglichst umgesetzt werden, also ist man gerade nicht „wertneutral“.
Seit 2022 verfügt der NKR über zusätzliche Prüfkompetenzen, insbesondere hinsichtlich der Fragestellung, inwieweit digitale Lösungen in neuen Gesetzen berücksichtigt werden. Warum ist eine solche Prüfung wichtig? Und welche Konsequenzen haben die Ergebnisse Ihrer Prüfungen?
Hier möchte ich etwas vorwegschicken: Der Digitalcheck ist keine vollkommen neue Idee. Bereits im NKR-Jahresgutachten 2019 „Erst der Inhalt, dann die Paragraphen“ wurde die Einführung eines „Digital-TÜVs“ gefordert. Der Koalitionsvertrag 2021 und die Digitalstrategie der Bundesregierung haben die Prüfung des Digitalchecks nun in die Verantwortlichkeit des NKR gelegt. Nach dem ersten Jahr stellen wir fest: Die Ressorts beginnen zwar, sich vertiefter mit der Frage der Digitaltauglichkeit zu beschäftigen, bis zum vollständig digitaltauglichen Recht ist es jedoch noch ein weiter Weg.
Wichtig ist der Digitalcheck vor allem, weil der digitale Vollzug von Gesetzen des Bundes bisher viel zu selten mitgedacht wird. So herrscht die Einstellung vor: „Der Bund regelt – und wie der Vollzug läuft, ist Sache der Länder und Kommunen.“ Dabei müsste diese Vollzugsperspektive von Beginn an eine Rolle bei der Formulierung von Gesetzen spielen. Das erste Jahr hat vor allem die Wichtigkeit der Visualisierung der Vollzugsprozesse zutage geführt – der NKR war mit dem Bundesministerium des Innern und für Heimat und dem Ressortkreis an der Formulierung eines Kabinettbeschlusses beteiligt, in dem dieser Visualisierung besondere Bedeutung zukommt. Denn erst durch eine detaillierte grafische Darstellung wird deutlich, wo ein Gesetz in der Praxis auf analoge Grenzen stößt. Mittlerweile legen uns die Ressorts in rund einem Drittel der Gesetzentwürfe eine solche Visualisierung der Vollzugsprozesse vor.
Es ist aber auch klar, dass wir hier noch einiges zu tun haben, zum Beispiel bei der Festlegung auf bestimmte Standards bei der Darstellung von Prozessen. Die Visualisierungen sind nämlich kein Selbstzweck, sondern müssen für die Vollzugsebene nutzbar sein, um Klarheit über die digitale Umsetzung von Gesetzen zu erhalten.
Was Erfolgsbeispiele angeht, können wir als NKR etwa darauf verweisen, dass eine Reihe von Schriftformerfordernissen aufgezeigt und in einem Großteil der Fälle auch von den Ressorts aus den Entwürfen entfernt wurden. Wir sehen dies als einen guten Anfang, aber für die feste Verankerung digitaltauglichen Rechts wird der Digitalcheck noch eine ganze Weile notwendig sein.
Der NKR hat ein Positionspapier zum Pakt zur Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren veröffentlicht. Wie kann eine ganzheitliche Strategie für dieses Thema gelingen? Was braucht es konkret für die Umsetzung dieser Vorschläge in der Praxis, damit wir das von der Bundesregierung vorgegebene „Deutschland-Tempo“ erreichen?
Zunächst ist es positiv zu bewerten, dass sich die Bundesregierung in ihrem Koalitionsvertrag ambitionierte Ziele hinsichtlich der Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren gesetzt hat. Dies ist mit Blick auf die Herausforderungen, vor denen Deutschland steht, nur folgerichtig. Ambitionierte Ziele allein reichen aber nicht; es braucht zunächst einen klaren Fahrplan und darauffolgend konkrete Maßnahmen.
Die aktuelle Regierung hat mit der ad-hoc Inbetriebnahme von LNG-Terminals gezeigt, dass es in Krisenzeiten auch schnell gehen kann. Auch hat die Bundesregierung bereits einige Beschleunigungsvorhaben auf den Weg gebracht. Aus Sicht des NKR reichen die Maßnahmen jedoch nicht aus. Trotz der Bemühungen und der ersten Erfolge sind wir von dem vielbeschworenen „Deutschland-Tempo“ noch weit entfernt. Hierfür braucht es eine Strategie zur ganzheitlichen Beschleunigung. Der bereits im Koalitionsvertrag angekündigte Beschleunigungspakt könnte der Notwendigkeit eines ganzheitlichen Ansatzes Rechnung tragen. Leider wurde der Pakt aber immer wieder verschoben. Ursprünglich war er für Herbst 2022 angekündigt. Die Entwurfsfassungen des Paktes waren aus meiner Sicht in vielen Punkten zu vage und enthielten sehr viele Prüfaufträge. Das hat der NKR zum Anlass genommen, ein Positionspapier zu erarbeiten, um die Maßnahmen und Prüfaufträge zu konkretisieren und bislang unberücksichtigte Vorschläge einzubringen. Das Positionspapier haben wir im Juli 2023 an das Bundeskanzleramt übermittelt und auch veröffentlicht. Bund und Länder haben den Beschleunigungspakt nun Anfang November 2023 beschlossen.
Wir als NKR sehen in dem beschlossenen Pakt erhebliches Potenzial für eine flächendeckende Vereinfachung von Planungs- und Genehmigungsverfahren. In dem Pakt sind nun viele konkrete und greifbare Vorhaben genannt. Dabei wurden auch etliche Vorschläge aus dem NKR-Positionspapier aufgegriffen. Auch wenn der nun beschlossene Pakt ein wichtiger Meilenstein ist, kann es jedoch erst der Auftakt sein. Jetzt kommt es auf die konsequente Umsetzung an. Dieser Umsetzungsprozess muss aktiv und bewusst gesteuert werden. Dafür brauchen wir verbindliche Zeitpläne, sichtbare Verantwortlichkeiten, klar definierte Meilensteine und ein öffentliches Monitoring des Prozesses. Nur so können wir das „Deutschland-Tempo“ erreichen.
Im Deutschland-Pakt wird auch der Einsatz von künstlicher Intelligenz (KI) für die Beschleunigung der Verfahrensschritte genannt. Weshalb diskutieren wir bereits über Potenziale von KI, wenn wir noch keinen einheitlichen technischen Rahmen innerhalb unserer Verwaltungsebenen besitzen?
Sie haben recht. Gerade bei der Vollzugsdigitalisierung lassen sich in dem Pakt zu wenige konkrete Maßnahmen erkennen. Schlagworte wie „künstliche Intelligenz“ lesen sich zwar gut adressieren, aber nicht die tatsächlichen Herausforderungen, vor denen wir aktuell stehen. Wir sollten hier nicht den zweiten Schritt vor dem ersten machen.
Es fehlen Schnittstellen genauso wie gemeinsame Software- und Cloudlösungen. Hier sollten wir den Fokus zuerst auf die technischen und rechtlichen Voraussetzungen legen. Ansonsten scheitert die Digitalisierung bereits an den „Basics“. Damit die Verwaltungsdigitalisierung ganzheitlich gelingen kann, müssen Digitalisierung und Standardisierung eng zusammengedacht werden. Sonst setzen sich die Probleme bei der Kompatibilität digitaler Anwendungen fort. Das hat Medienbrüche zur Folge, sodass Digitalisierungspotenziale mit Blick auf die Arbeitsentlastung nicht hinreichend ausgeschöpft werden. Der NKR betont deshalb seit Jahren, dass es ein Standardisierungsregime für die einheitliche Festlegung und flächendeckende Nutzung von Standards, Datenformaten und Schnittstellen braucht.
Dass der Beschleunigungspakt nun ein solches Standardisierungsregime beim IT-Planungsrat vorsieht, ist ein wichtiger Schritt. Dieses sollte nun schnell etabliert, verbindlich ausgestaltet sowie mit den notwendigen Ressourcen ausgestattet werden. Wenn uns die Etablierung eines einheitlichen technischen Rahmens gelingt, kann in einem nächsten Schritt dann möglicherweise auch weiteres Beschleunigungspotenzial durch den Einsatz von künstlicher Intelligenz gehoben werden.
Unternehmen werden häufig als „Power-User des E-Government“ bezeichnet, da sie einen hohen Digitalisierungsgrad und viele Verwaltungskontakte haben. Sind Sie der Meinung, dass diese Position sich in der Ausrichtung der aktuellen Verwaltungsdigitalisierung ausreichend widerspiegelt?
Zunächst einmal würde ich zustimmen: Die Anzahl der Verwaltungskontakte von Unternehmen ist sicher höher als die von Bürgerinnen und Bürgern. Das Problem, dass die Digitalisierung zu sehr von einer überkommenen klassisch-bürokratischen Funktionsweise der Verwaltung gehemmt wird, betrifft jedoch beide Gruppen gleichermaßen. Unternehmen müssen, wie auch Bürgerinnen und Bürger, gewisse Standardinformationen immer wieder an die Verwaltung übermitteln. Das „Once-Only-Prinzip“ ist noch immer nicht in der Verwaltung angekommen. Dabei erweisen sich die föderale Aufgabenteilung bei der Verwaltungsdigitalisierung und die stark dezentral-fragmentierten Governance-Strukturen immer wieder als Hemmnisse. Den Nutzern ist es aber egal, auf welcher Verwaltungsebene sie einen Antrag stellen – sie interagieren mit „dem Staat“ und erwarten qualitativ hochwertige und auch zunehmend nutzerfreundliche digitale Services.
Um den Unternehmen also noch stärker in ihrer Rolle als Power User entgegenzukommen, müssten bei der Registermodernisierung erhebliche Fortschritte gemacht werden. Es braucht eine funktionierende Registerlandschaft als Grundvoraussetzung für bessere digitale Verwaltungsdienstleistungen. Und dennoch fehlt bei der Registermodernisierung ein föderales Zielbild – es gibt lediglich eine Reihe von kleinteiligen Einzelprojekten, verteilt über verschiedene Ressorts und föderale Ebenen.
In unserem diesjährigen Jahresbericht haben wir eine Landkarte der Registermodernisierung aufgezeichnet. Diese Visualisierung der Zusammenhänge zeigt die enorme Komplexität, mit der wir es hier zu tun haben. Nur wenn die Bundesregierung eine ganzheitliche Strategie bei der Registermodernisierung verfolgt, kann die Verwaltungsdigitalisierung vorankommen. Davon hängt auch der Erfolg des OZG 2.0 ab. Und nur dann kann dem Bedürfnis der Nutzenden, also Unternehmen, Bürgerinnen und Bürgern gleichermaßen, nach schlanken und effizienten Verwaltungsstrukturen nachgekommen werden.
Die rechtssichere Umsetzung von Regeln hat in der Verwaltungspraxis oberste Priorität. Es gibt die Befürchtung, dass wir uns als Land fast in den Stillstand regulieren. Wie kommen wir trotz „Dauerkrisenmodus“ in die Transformation?
Richtig, die deutsche öffentliche Verwaltung ist durch eine historisch gewachsene legalistische Kultur geprägt, in der korrekte Rechtsanwendung, Gerichtsfestigkeit von Entscheidungen und die formale Qualität des Handelns leitend sind. Es geht also darum, möglichst rechtssicher zu arbeiten und um beinahe jeden Preis zu verhindern, dass Verwaltungsakte aufgrund von Fehlern aufgehoben werden. Bis zu einem gewissen Grad ist das auch richtig und wichtig. Denn Bürokratie schützt auch vor Ungleichbehandlung und Willkür. Wir sind aber auf einem Niveau an Bürokratie angekommen, das inzwischen zunehmend die Handlungsfähigkeit der Verwaltung in Frage stellt und das auf der Vollzugsebene zu „autonomem Bürokratieabbau“ oder „pragmatischer Illegalität“ führt, weil rechtliche Regelungen nicht mehr entsprechend angewendet werden können. Daher muss zum einen die Regulierungskultur verändert, die Regelungsdichte und -volatilität reduziert und Bürokratieabbau als eine prioritäre Aufgabe verfolgt werden. Zum anderen muss sich aber auch die Verwaltungskultur ändern, da einer allein auf korrekte Rechtsanwendung fokussierten Arbeitsweise nicht ausreichen wird.
Die Herausforderungen der Zukunft lassen sich im Rahmen der gegebenen Ausbildungs-, Rekrutierungs- und Qualifikationsmechanismen für die öffentliche Verwaltung nicht angemessen bewältigen. Neben rechtlicher Expertise, die zweifelsohne nach wie vor essenziell ist, sind weitere Fachdisziplinen erforderlich, d. h., eine qualifikatorisch stärker diversifizierte Verwaltung, vor allem auf der Ministerialebene, da in nachgeordneten Behörden und in Kommunen bereits heute eine nennenswerte qualifikatorische Vielfalt vorhanden ist. Zudem müssten Verwaltungsbeschäftigte bereits in der Ausbildung verstärkt in Projektsteuerung, IT sowie in ökonomisch-manageriellen und sozialwissenschaftlichen Fragen geschult werden. Weitere Hebel wären, das Laufbahnsystem noch mehr zu flexibilisieren, den öffentlichen Dienst als Arbeitgeber attraktiver zu machen und etwa auch den Wechsel zwischen öffentlichem und privatem Sektor zu vereinfachen, was andere europäische Länder seit langem praktizieren. Insgesamt sollte die „Versäulung“, die vor allem die Bundes- und Landesverwaltung, aber durchaus auch die Vollzugsverwaltung in größeren Kommunalbürokratien kennzeichnet, aufgeweicht werden.
Das traditionelle Silodenken entlang von Ressortgrenzen und „Fachbruderschaften“ wird zunehmend dysfunktional, wenn es darum geht, neuartige, ressortübergreifende und querschnittsbezogene Problemlagen zu meistern, die sich nicht an den gegebenen Zuständigkeitsgrenzen orientieren.
Bürokratie, fehlende Digitalisierung und zu restriktive Vorschriften für den Datenschutz werden meistens als Hemmnisse für die Verwaltungsdigitalisierung in Deutschland genannt. Immer wieder wird in diesem Zusammenhang auch die Frage nach der Verwaltungskultur aufgeworfen. Welche Zielbilder wünschen Sie sich für die öffentliche Verwaltung? Und wie können wir diese in die deutsche Verwaltungskultur integrieren?
Ich denke, einige Handlungsorientierungen, Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster – so wird ja Verwaltungskultur im weiteren Sinne definiert – müssten sich an veränderte Handlungsrealitäten und Herausforderungen besser und schneller anpassen. Dazu gehört zum einen – neben der Rechts- und Regelorientierung, die auf formale Korrektheit schaut – ein stärker handlungspragmatisches Verwaltungsverständnis in Situationen, die dieses erfordern und zulassen. Selten ist der Verzicht auf Pragmatismus und auf die Nutzung von Handlungsspielräumen bei Verwaltungsentscheidungen rechtlich bedingt, sondern er liegt in einer restriktiven, teils übervorsichtigen Entscheidungskultur, in entsprechenden Arbeitsroutinen, Selbstwahrnehmungen der Beamten und in fehlenden Anreizen begründet. Letzteres ist auch eine Frage des Führungsverhaltens, das hier stärker ermutigen und auch eine andere Fehlerkultur befördern (und belohnen) müsste, was natürlich nicht heißt, dass wir jetzt massenweise rechtswidrige Verwaltungsakte tolerieren wollen. Aber es sollte möglich und gewünscht sein, gegebene Spielräume besser im Sinne von Problemlösungen zu nutzen, was gerade in Krisen- und Notlagen wichtig ist.
Dass die traditionellen hoheitlich-hierarchischen Strukturen der Verwaltung ein Hemmnis für agiles, responsives und stärker digitales Verwaltungshandeln sein können, ist schon lange bekannt und wird mindestens seit der New Public Management Diskussion der 1980er Jahre moniert. Zwar ist in diesem Bereich, vor allem in der Kommunalverwaltung, auch schon vieles in Bewegung gekommen. Dennoch zeigt sich nach wie vor eine Schwerfälligkeit in den Strukturen und Prozessen, was auch mit – wiederum kulturell eingebetteten – bürokratischen Arbeitsformen, hierarchischer Steuerung und vielfältigen Koordinationszwängen über Ebenen und Sektoren hinweg zu tun hat. Hier braucht es Vereinfachung und „Mut zur Lücke“; auch das müsste verstärkt in die Verwaltungskultur einfließen.
Last but not least möchte ich nochmals auf die qualifikatorische Zusammensetzung und Prägung der Verwaltung hinweisen, die einen erheblichen und vielleicht den wichtigsten „Kulturfaktor“ darstellt. Vor allem im ministerialen Bereich sollte die Verwaltung aus meiner Sicht stärker disziplinär diversifiziert werden, was auch eine Reform der Ausbildungsinhalte und Rekrutierungsmuster voraussetzt.
Welche Herausforderungen und Erfolge haben Sie aus dem Jahr 2023 mitgenommen? Welche Themen stehen für das Jahr 2024 Jahr auf der Agenda des NKR?
Das Thema Planungs- und Genehmigungsverfahren war für den NKR im Jahr 2023 besonders wichtig. Hier würde ich es schon als großen Erfolg bewerten, dass so viele Vorschläge aus unserem Positionspapier in den Pakt aufgenommen worden sind. Uns steht jetzt aber ein herausfordernder Umsetzungsprozess bevor. Diesen werden wir als NKR eng begleiten. Gleichzeitig werden wir das Thema weiter forcieren: Zusammen mit dem Statistischen Bundesamt wird der NKR ein Projekt durchführen, bei welchem wir die Perspektive der Genehmigungsbehörden von Verfahren nach dem Bundes-Immissionsschutzgesetz in den Fokus nehmen. Es freut mich sehr, dass sich auch die AWV mit ihrer Projektgruppe engagiert in das Projekt einbringt.
Besorgniserregend sehe ich die Entwicklung beim Erfüllungsaufwand. Noch nie ist der Erfüllungsaufwand, also sind die Belastungen die bei Bürgerinnen und Bürgern, Wirtschaft und Verwaltung durch die Befolgung von bundesrechtlichen Vorschriften entstehen, so sehr gestiegen wie in diesem Jahr, was vor allem mit einzelnen besonders kostenintensiven Vorhaben zusammenhängt. Hier müssen wir ganz dringend zu einer Trendwende kommen. Dafür bräuchte es ein sehr ambitioniertes Bürokratieentlastungsgesetz IV. Da ist die Bundesregierung gerade dran. Es bleibt abzuwarten, ob das ausreicht, um zu einer spürbaren Entlastung zu kommen.
Unabhängig davon braucht es aus meiner Sicht einen langfristigeren und stärker systematischen Ansatz. Als NKR haben wir deshalb vorgeschlagen, die Belastungsbremse „One in one out“ wirksamer auszugestalten. Der größte Hebel, um Bürokratie abzubauen, liegt in der Digitalisierung von Verfahren und Prozessen. Die Verwaltungsdigitalisierung geht in Deutschland aber weiterhin zu langsam voran. Das Thema wird also auch in den nächsten Jahren ganz oben auf der Agenda des NKR stehen. Mit der Einführung des Digitalchecks hat die Bundesregierung einen Schritt getan, der einen wichtigen Beitrag leisten kann. Hier wird es nach dem ersten Jahr Digitalcheck aber darauf ankommen, dass die Ressorts diesen auch so anwenden, wie er gedacht ist: Also in frühen Phasen des Gesetzgebungsverfahrens über die Digitaltauglichkeit des Rechts nachdenken, bevor erste Paragraphen geschrieben werden. Darüber hinaus ist dieses Jahr entscheidend, dass die Verwaltungsdigitalisierung stärker mit der Registermodernisierung verzahnt und entsprechende Reformen ambitioniert vorangebracht werden. Der NKR wird weiter Vorschläge an die Bundesregierung machen, um dazu einen Beitrag zu leisten.
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